Zwischen Kontrolle und Freiheit: Ein Gespräch über ADHS, Angst und Selbstfindung

Veröffentlicht am 6. November 2025 um 17:30

Ein fiktives Gespräch über ADHS, Angst und Selbstfindung von Claas Michelsen

Bild: Pixabay / Vivek Chugh

Dieses Gespräch ist fiktiv, aber vieles daran ist echt. Es steht für das Ringen vieler Menschen, die mit (unbehandeltem) ADHS leben. Besonders dann, wenn sich Impulsivität mit Angst und übermäßiger Kontrolle vermischt. Es geht um das Spannungsfeld zwischen Lebendigkeit und Anpassung, zwischen dem Wunsch, spontan zu sein, und der Angst, Fehler zu machen. Der Dialog zeigt auch, wie aus Überforderung Verständnis werden kann – und wie Heilung oft nicht darin besteht, sich zu verändern, sondern sich wieder zu erlauben, man selbst zu sein.

Wenn Spontanität auf Kontrolle trifft

Klient: Ich habe oft das Gefühl, dass sich Spontanität und Kontrolle bei mir gegenseitig blockieren. Wenn ich loslassen will, kommt sofort Angst.

Therapeut: Das ist typisch für viele ADHS-Betroffene. Ihr Nervensystem liebt Bewegung und Offenheit, aber sie haben gelernt, dass diese Impulse Ärger bringen. Also kontrollieren sie sich, bis nichts mehr fließt. Spontanität fühlt sich nach Freiheit an, Kontrolle nach Sicherheit – und das Gehirn schwankt ununterbrochen zwischen beidem.

Der innere Kampf: Energie mit angezogener Bremse

Klient: Ich war früher impulsiv, neugierig, schnell. Aber mit den Jahren bin ich ängstlicher geworden – fast zögerlich.

Therapeut: Dann kämpft wahrscheinlich ein Teil von Ihnen, der handeln will, gegen einen anderen, der Angst hat. Das ist wie ein Motor mit angezogener Handbremse: dauernd Spannung, aber kein Vorankommen. Dieses Muster entsteht, wenn die eigene Impulsivität auf Ablehnung trifft und man daraus lernt: „Meine Energie ist gefährlich.“

Warum Hilfe annehmen so schwer ist

Klient: Ich weiß, dass mir eine Behandlung guttun würde, aber ich wehre mich trotzdem dagegen.

Therapeut: Das ist sehr häufig. Nicht, weil die Menschen nicht wollen, sondern weil Hilfe alte Scham berührt. Man müsste zugeben: Ich hätte anders leben können. Diese Erkenntnis ist schmerzhaft. Also bleibt man lieber in der gewohnten Anstrengung, als das eigene Leben neu zu deuten.

Klient: Ich kenne auch viele, die Medikamente strikt ablehnen. Sie sagen: „Wer weiß, was das mit meiner Persönlichkeit macht. Ich will das alleine schaffen.“

Therapeut: Ja, das ist ein verständlicher, aber häufig irrationaler Reflex. Viele haben Angst, dass ein Medikament ihre Identität verändert. Weil sie ihr Leben lang das Gefühl hatten, nicht Herr im eigenen Kopf zu sein, kann der Gedanke an einen „Eingriff“ enorme Angst auslösen. Das ist oft weniger Logik als Schutzreflex. Medikamente können den Betroffenen helfen, sich selbst zu steuern, ohne permanent zu kämpfen.

Sicherheit durch Kontrolle und die Flucht in den Körper

Klient: Ich merke, dass ich mich manchmal an körperliche Symptome klammere, als müsste es etwas Organisches sein.

Therapeut: Auch das ist häufig ein Schutzmechanismus. Körperliche Diagnosen sind greifbar, moralisch neutral. Wenn das Problem organischer Natur ist, muss man sich nicht schämen. Psychische oder neurobiologische Themen dagegen berühren die eigene Identität, sie fühlen sich viel bedrohlicher an.

Arbeit, Beruf und Selbstanpassung

Klient: Ich habe lange in einem Bürojob gearbeitet, der mich ausgelaugt hat, und bin jetzt im Außendienst. Der Job ist gut bezahlt, aber er erfüllt mich nicht. Trotzdem habe ich mir in den Kopf gesetzt, eine Wohnung oder sogar ein Haus zu kaufen – als wäre das die Lösung.

Therapeut: Das kann ein Versuch sein, Stabilität im Außen zu schaffen, wenn sie im Inneren fehlt. Viele Menschen mit ADHS bauen sich feste Strukturen – Haus, Verpflichtungen, Kredite – als Ersatz für innere Ruhe. Es ist kein materieller Wunsch, sondern eine Suche nach Halt. Aber wahre Sicherheit entsteht nicht durch Kontrolle, sondern durch Vertrauen in die eigene Beweglichkeit.

Klient: Ich mache immer wieder die Erfahrung, dass körperliche Aktivität, aber auch körperliche Berührung unmittelbar beruhigend und ausgleichend wirken. Warum ist das so ausgeprägt bei ADHS?

Therapeut: Weil der Körper die Heimat des Nervensystems ist. Viele ADHS-Betroffene sind gedanklich permanent in Bewegung, aber körperlich abgekoppelt. Berührung wirkt hier wie ein Anker: Sie senkt den Stresspegel und gibt dem Körper seine Grenzen zurück. Dadurch entsteht ein unmittelbares Gefühl von „Ich bin da, und ich bin sicher.“

Exzess als Ventil

Klient: Ich kenne Menschen mit ADHS, die regelmäßig in Partys oder Exzesse flüchten.

Therapeut: Das ist häufig ein Versuch der Selbstregulation. Wenn das Leben zu eng wird, sucht das Nervensystem ein Ventil. Musik, Bewegung, Nähe, Alkohol, all das bringt kurzzeitig das, was sonst fehlt: Dopamin, Intensität, Freiheit. Das Problem ist nicht der Wunsch nach Lebendigkeit, sondern dass sie sich nur noch im Ausnahmezustand zeigt.

Beziehungen: Nähe und Rückzug

Klient: Beziehungen sind für mich oft schwierig. Ich will Nähe, aber manchmal halte ich sie kaum aus. Dann brauche ich Ruhe und Abstand, aber wenn der andere sich wirklich zurückzieht, bekomme ich Panik.

Therapeut: Das ist sehr typisch für Menschen mit ADHS. Sie sehnen sich nach Verbindung, aber zu viel Nähe überfordert das Nervensystem. Sie wollen in Ruhe gelassen, aber nicht verlassen werden, was für den Partner natürlich schwer zu verstehen ist. Es ist kein Widerspruch, sondern der Ausdruck zweier Bedürfnisse: das nach Sicherheit und das nach Freiheit.

Klient: Es fühlt sich manchmal so an, als wäre jede Beziehung zu laut.

Therapeut: Genau. Das ADHS-Gehirn reagiert auf Reize stärker. Emotionale Nähe bedeutet für viele nicht nur Geborgenheit, sondern auch: neue Erwartungen, Signale, Mikrobewegungen, Worte – alles wird gleichzeitig wahrgenommen. Darum brauchen sie Rückzug, um die Reize zu verarbeiten. Wenn der Partner diesen Rückzug nicht persönlich nimmt, kann Nähe wachsen, ohne erdrückend zu werden.

Klient: Ich habe manchmal das Gefühl, dass viele mit ADHS in Beziehungen immer wieder das Neue suchen: einen anderen Partner, ein anderes Abenteuer.

Therapeut: Das stimmt, und es ist wichtig, das richtig zu verstehen. Es geht dabei selten um Mangel an Liebe, sondern um Mangel an innerer Ruhe. Wenn das Nervensystem überreizt oder leer ist, fühlt sich das wie emotionale Leere an. Dann entsteht der Impuls: „Ich brauche etwas Neues, sonst sterbe ich innerlich.“ Das Neue – der andere Mensch, das nächste Projekt, das Abenteuer – bringt kurzfristig Energie, Dopamin, Leben. Aber es ist eine chemische Lebendigkeit, keine seelische.

Klient: Also ist es eine Verwechslung: das Gefühl von Aufregung mit dem Gefühl von Liebe?

Therapeut: Ganz genau. Liebe ist nicht das, was das Nervensystem kitzelt, sondern das, was es beruhigt. Und ADHS-Betroffene verwechseln oft Aktivierung mit Verbindung. Wenn das System lernt, dass Stille, Beständigkeit und Ruhe nicht gleich Langeweile oder Verlust bedeuten, dann kann auch Liebe endlich sicher werden. Vorher wird sie oft mit Reiz verwechselt. Und sobald der Reiz nachlässt, glaubt man, sie sei vorbei.

Wieder zulassen lernen

Klient: Also besteht Behandlung darin, wieder zuzulassen, was man sich abtrainiert hat?

Therapeut: Genau. Es geht nicht darum, ein anderer Mensch zu werden, sondern dem ursprünglichen Selbst wieder Raum zu geben. Therapie heißt hier: schrittweise Sicherheit schaffen, das Nervensystem beruhigen und kleine Portionen Spontanität wieder einüben, bis der Körper merkt: Ich darf leben, ohne mich zu verlieren.

Intelligenz und Einfachheit

Klient: Ich kenne Menschen, die sehr intelligent sind, aber in einfachen Berufen arbeiten. Sie sind darin richtig gut und keinesfalls unterfordert.

Therapeut: Das muss kein Widerspruch sein. ADHS-Betroffene "funktionieren" oft besser, wenn ihre Arbeit körperlich, konkret und rhythmisch ist. Sie brauchen keine geistige Komplexität, sondern neuronale Passung. Manche sind in einfachen Tätigkeiten exzellent, weil sie dort im Gleichgewicht sind, statt in Überforderung zu leben.

Der mutige Umweg

Klient: Eine Freundin von mir hat ihre Ausbildung in Etappen gemacht: erst Masseurin, später Physiotherapeutin, dann den Bachelor. Sie sagt: „Am Stück hätte ich das nie geschafft.“

Therapeut: Das ist ein Paradebeispiel für Selbsterkenntnis. Sie hat ihren Weg an ihr Nervensystem angepasst, nicht sich selbst an den Weg. Diese Etappen gaben ihr Erfolgserlebnisse und Sicherheit. So entsteht Wachstum ohne Selbstzerstörung.

Anpassungsdruck und Selbstachtung

Klient: Viele Betroffene trauen sich nicht, diesen einfacheren Weg zu gehen, selbst wenn niemand sie drängt.

Therapeut: Weil sie sich jahrelang beweisen mussten. Sie wollen zeigen, dass sie „normal“ sind. Aber das ist die eigentliche Falle: Wahre Reife heißt, zu verstehen, dass Anpassung kein Zeichen von Stärke ist, wenn sie das eigene Wesen verleugnet.

Klient: Und manche scheinen, statt sich selbst zu finden, in starren Überzeugungen Halt zu suchen: Politik, Spiritualität, Ernährung, was auch immer.

Therapeut: Ja, das ist eine häufige Form von Ersatz-Stabilität. Wenn der innere Kompass wackelt, suchen Menschen Gewissheit im Außen. Ideologien und feste Weltbilder geben eine Struktur, die man innerlich vermisst. Das fühlt sich zunächst wie Orientierung an, ist aber meist eine Angstreaktion: „Wenn ich mich an etwas Absolutes binde, verliere ich mich nicht.“ Aber wirkliche Identität entsteht nicht durch Überzeugungen, sondern durch Verbindung – mit sich selbst, mit anderen, mit dem Leben.

Klient: Ich habe mich immer getrieben gefühlt, unbedingt einen akademischen Abschluss zu machen, obwohl ich ständig mit dem Lernen gekämpft habe.

Therapeut: Ja, das ist einer der stärksten gesellschaftlichen Filter. Ein Studium gilt als Beweis von Intelligenz und Selbstdisziplin – genau die Eigenschaften, an denen ADHS-Betroffene am meisten zweifeln. Deshalb wird das Studium oft zu einer Art Bewährungsprobe: „Wenn ich das schaffe, bin ich normal.“ Aber das ist kein Lernweg, sondern ein Selbstwert-Experiment.

Klient: Und wenn es dann nur mit Mühe oder gar nicht klappt, bleibt die Scham?

Therapeut: Genau. Der Schmerz darüber sitzt tief, weil er nicht nur das Versagen einer Aufgabe bedeutet, sondern das vermeintliche Scheitern als Mensch. Dabei hat es mit Intelligenz nichts zu tun, sondern mit Neurobiologie. Das Studium verlangt lineares, geduldiges, abstraktes Denken über lange Zeiträume. Das ADHS-Gehirn braucht dagegen Reiz, Rückmeldung, Sinn und Bewegung. Es ist, als würde man einem Hochleistungssportler sagen, er solle drei Jahre stillsitzen, um zu beweisen, dass er laufen kann.

Die Fähigkeit, Komplexität zu reduzieren

Klient: Dabei haben gerade ADHS-Betroffene oft die Fähigkeit, komplexe Dinge so zu erklären, dass andere sie verstehen.

Therapeut: Ja, weil sie die Welt nicht linear, sondern ganzheitlich wahrnehmen. Sie spüren Zusammenhänge, denken in Bildern und Empfindungen. Das macht sie zu hervorragenden Übersetzern. In einer überkomplexen Welt sind sie diejenigen, die Sinn herstellen. Nicht trotz, sondern wegen ihrer Art zu denken.

Klient: Dann ist ADHS ja eigentlich ein Talent ...

Therapeut: Ja, wenn man gelernt hat, es zu führen und nicht zu bekämpfen. Das, was in einer engen, starren Welt als „zu viel“ erscheint, ist in Wahrheit eine andere Art, mit der Welt in Kontakt zu sein. Nur wenn dieses System ständig unter Druck steht, kippt sein Potenzial in Chaos. Aber im Gleichgewicht ist es Kreativität, Empathie, Mut, Spontaneität, Authentizität. Man könnte sagen: Das Talent liegt nicht trotz, sondern in der Besonderheit. Allerdings braucht es ein Umfeld, das das versteht.

Schlussgedanke

Therapeut: Vielleicht ist Heilung genau das: Nicht, alles im Griff zu haben, sondern zu wissen, dass man auch ohne Kontrolle nicht verloren geht. ADHS ist kein Mangel an Disziplin, sondern oft eine tiefe Sehnsucht nach Echtheit. Wenn Sicherheit und Lebendigkeit wieder zusammenfinden, wird aus „Störung“ wieder Bewegung – und aus Chaos wieder Leben.